Verkehrswende: Einfach machen!

Alle wollen das Gleiche: Möglichst schnell von A nach B kommen und dabei nicht unter die Räder geraten. Anregungen zur Verkehrswende

Eigentlich wollte ich einen Artikel mit ganz vielen Fakten schreiben. Zahlen, die eindrucksvoll belegen, wie sinnvoll es wäre, das Auto öfter mal stehen zu lassen und mehr Wege mit dem Fahrrad zurück zu legen – dem schönsten und umweltfreundlichsten Verkehrsmittel, das die Menschheit jemals erfunden hat.

Hätte ich dann noch geschrieben, dass es jeden Tag in Deutschland 40 Mio. Autofahrten gibt, die kürzer als zwei Kilometer sind, hätte es bei allen Klick gemacht. Problem gelöst.

Andreas Scheuer würde keine Steuermillionen mehr in sinnlosen Maut-Projekten versenken und Gehwege mit E-Scootern zumüllen, sondern sehr viel Geld für die Verkehrswende locker machen. Städte und Kommunen würden mit den zusätzlichen Mitteln vorrangig den ÖPNV stärken, neue und sichere Fuß- und Radwege und mehr Platz für Menschen schaffen, da die Zahl der Autos abnähme.

Weniger CO2, weniger Stickoxide, weniger Feinstaub, weniger Lärm. Alles super, Verkehrswende: Läuft.

Doch so funktioniert es leider nicht. Würden wir unsere Entscheidungen immer rational und aufgrund von Daten und Fakten treffen, und könnten wir uns schneller auf Veränderungen einstellen, hätten wir wohl keine Diskussion über den menschengemachten Klimawandel, würden weniger Fleisch essen, weniger fliegen, sparsamere Autos fahren und weniger Schrottprodukte mit kurzer Lebensdauer kaufen und entsorgen.

Aber eigentlich ist das allen schon lange klar. Langweilig.

Und so würde dieser Artikel in etwa die gleiche Wirkung entfalten wie das zehntausendste Bild eines Eisbären, der einsam auf einer Eisscholle durch die Arktis treibt.

Menschen sind wie Flüsse

Ich möchte mal etwas Anderes probieren, nämlich auf die Gemeinsamkeiten aller Verkehrsteilnehmer eingehen. Denn die gibt es durchaus: Mikael Colville-Andersen, der Gründer der Firma Copenhagenize Design Company, arbeitet auf der ganzen Welt mit Städten und Regierungen zusammen, um Städte fahrradfreundlicher zu gestalten (seine Firma plant auch aktuell am Radschnellweg Elmshorn-Hamburg mit). In seinem Buch „Copenhagenize“ spricht er von einem Phänomen, das er als A-nach-B-ismus (A2Bism) bezeichnet.

Bahnhof Tornesch: Die Treppe führt die Radfahrer ans Ende des Bahnsteigs, der Trampelpfad dorthin, wo der Zug hält

Alle Menschen wollen einfach nur so schnell wie möglich von A nach B kommen. Unnötige Hindernisse, Umwege und Verzögerungen empfinden sie dabei als lästig.

Menschen sind wie Flüsse, die sich ihren Weg durch die Landschaft bahnen – sie werden immer die einfachste Route finden.

MIKAEL COLVILLE-ANDERSEN

Das Verkehrsmittel und die Route werden also so gewählt, dass man am schnellsten von A nach B kommt.

Angebote für die Menschen

Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, dass ich Produkte für einen hart umkämpften Markt entwickle. Dabei stelle ich mir immer diese eine Frage: Welches Problem löse ich für wen und – da ich in der freien Wirtschaft arbeite – kann man dafür Geld verlangen?

Übertragen wir dies auf die Verkehrsinfrastruktur, so ist diese ein Produkt, ein Angebot an die Menschen. Die Frage der Wirtschaftlichkeit sollte sich ja aufgrund der Daseinsvorsorge des Staates gar nicht stellen.

Ich muss also ein Angebot unterbreiten, das ein Bedürfnis befriedigt und gut genug ist, dass es auch angenommen und anderen Angeboten vorgezogen wird. Auf keinen Fall sollte es als überflüssig angesehen werden – dann hätte ich ein Problem.

Bei der Konzeption unterscheide ich zwischen verschiedenen Personas, das sind (fiktive) Personen, die eine bestimmte Gruppe von Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen repräsentieren. Überträgt man dieses Prinzip auf die Verkehrsinfrastruktur einer Stadt, so könnten das sein:

  • Heinz (73), der ältere Fußgänger mit Rollator, der alle paar hundert Meter ein Päuschen machen möchte
  • Tim (31), der Freizeitradler, der nur bei schönem Wetter mit seiner Frau Ausflüge in die nähere Umgebung von Tornesch macht
  • Marcus (44), der Radpendler, der jeden Tag zehn Kilometer ins Büro pendelt und auf dem Rückweg noch ein paar Einkäufe erledigen möchte
  • Sandra (24), die umweltbewusste Krankenschwester, die ab Tornesch mit der Nordbahn nach Hamburg zur Arbeit möchte, aber aus Seestermühe morgens um 5 Uhr nicht ohne Auto wegkommt.

Überlege ich mir für Sandra ein Angebot, z. B. einen stündlichen Bus nach Tornesch zwischen 9 und 18 Uhr, wird sie es nicht annehmen und weiterhin mit dem Auto fahren (müssen).

Biete ich Marcus einen gut ausgebauten Radschnellweg an, über den er schnell und sicher ins Büro kommt, wird er ihn nutzen.

Sieht man sich die Städte in Deutschland an, muss man in sehr vielen Fällen feststellen, dass das Angebot nicht auf die Bedürfnisse der A-nach-B-isten abgestimmt ist. Gut für die Autofahrer: Eine gewisse Bevorzugung für den motorisierten Verkehr ist zu erkennen. Das sieht man nicht nur am Platz, der Autos (größtenteils) kostenlos zum Parken gewährt wird. Man sieht es auch daran, dass Fuß- und Radwege oft nur als Anhängsel zu einer Straße betrachtet werden und sich mit dem Rest an Platz begnügen müssen.

Pech für Fussgänger: Selbst wenn keine Mülltonnen auf dem Gehweg stehen, bleiben für sie im Idealfall 1,10 Meter. Wesentlich mehr Platz steht parkenden Autos zur Verfügung.

Ich kann es durchaus verstehen, wenn man den Status Quo aus Sicht eines Radfahrers oder Fußgängers als ungerecht empfindet.

Mittlerweile wird der Flächenbedarf für Autos – in Folge wachsender Anzahl und Abmessungen – immer größer, und so wird es auch auf den gemeinsamen Fuß- und Radwegen immer enger. Es entstehen vermeidbare Gefahrensituationen zwischen den einzelnen Verkehrsteilnehmern, die sich eine oftmals viel zu kleine Fläche teilen müssen. Aber das wird billigend in Kauf genommen – um den Autoverkehr in seinem Fluss nicht zu behindern. Und da die meisten Autos 23 Stunden am Tag nicht bewegt werden, blockieren sie große Flächen, die anderen Verkehrsteilnehmern nicht mehr für eine andere Nutzung zur Verfügung stehen.

Durch den hohen Flächenverbrauch berauben wir uns vieler Möglichkeiten und engen uns selbst zu sehr dabei ein, Mobilität und Verkehrsinfrastruktur neu zu denken.

Das Angebot für Tornesch

Was passiert, wenn man schlechte Angebote unterbreitet, kann man u. a. auch in Tornesch beobachten. Der Radfahrer, der 100 Meter in falscher Richtung auf der Straße fährt, will einen Umweg und die Wartezeit an einer Ampel vermeiden. Die Fußgängerin, die über eine rote Ampel läuft, hat keine Lust, noch vier Minuten länger im Regen zu stehen und auf die nächste Grünphase zu warten. Der Autofahrer, der vom Baumschulenweg auf kürzestem Weg zur Autobahn möchte, fährt trotz Verbot eine Abkürzung über den Schäferweg, weil das Warten am Bahnübergang in Prisdorf eine Zumutung und die L 110 gesperrt ist.

Aufgabe der Politik und Verwaltung muss es also sein, Mittel für ein besseres Angebot bereit zu stellen und bei der Entwicklung dieses Angebotes alle Nutzer und deren unterschiedliche Bedürfnisse zu berücksichtigen. Vor allem muss aber akzeptiert werden, dass alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt sind. Das ist leider noch nicht der Fall.

Ich selbst fühlte mich noch vor wenigen Jahren mehr durch nebeneinander fahrende Radfahrer gestört, die ich aufgrund des fehlenden Sicherheitsabstandes nicht überholen konnte, als über die zahlreichen auf der Straße parkenden Autos. Die Autos waren eigentlich die Ursache dafür, dass der Platz nicht zum Überholen reichte – nicht die Radfahrer. Aber daran, dass überall parkende Autos rumstehen, hat man sich über die Jahre gewöhnt.

Was tun?

Das Wichtigste ist, dass sich Politik, Verwaltung und Verkehrsplaner mal mit Heinz, Tim, Marcus und Sandra unterhalten. Denn um ihnen ein passendes Angebot zu unterbreiten, muss man die Welt durch ihre Augen sehen und ihre Bedürfnisse ernst nehmen und verstehen. Und auch alle anderen Verkehrsteilnehmer sollten versuchen, gegenseitiges Verständnis zu entwickeln und sich in den anderen hineinzuversetzen.

Denn Sandra weiß nicht, dass Marcus, der jeden Tag den maroden Radweg an der L 107 nach Prisdorf fährt, schon mehrfach in der Dämmerung fast gestürzt ist. Deshalb ignoriert er mittlerweile die Benutzungspflicht des Radweges und fährt auf der Straße. Marcus hingegen weiß nicht, dass sich Heinz jedes Mal erschreckt, wenn er ihn auf dem gemeinsamen Fuß- und Radweg an der Esinger Straße überholt.

Ohne jetzt zu philosophisch werden zu wollen: Bei allen Überlegungen, die Politik und Verwaltung zu Verkehrsthemen anstellen, würde etwas helfen, das der US-amerikanische Philosoph John Rawls in seiner Gerechtigkeitstheorie als „Schleier des Nichtwissens“ bezeichnet. Im fiktiven Zustand des Nichtwissens, auf welcher Seite man später stehen wird (Autofahrer, Radfahrer oder Fußgänger), trifft man gerechtere Entscheidungen.

Das könnte zu einer erheblich besseren und gerechteren Mobilität führen.

Fazit

Auch mit klammen Kassen müssen wir an die Zukunft der Stadt denken. Wir müssen denen, die aufgrund der kurzen Entfernung auf das Auto verzichten und zum Bahnhof radeln könnten, attraktive Angebote machen, z. B. sichere Radwege und Abstellplätze für ihre Fahrräder. Wir müssen auch die ÖPNV-Anbindung an den Bahnhof ausbauen, für alle, für die Radfahren keine Option ist.

In Tornesch wohnen fast alle Menschen in einem Radius von zwei Kilometern rund um den Bahnhof und die Supermärkte und Discounter. Das sollte also machbar sein.

Es muss ja nicht gleich eine Fahrradhochbrücke zum Bahnhof sein. Auch mit deutlich weniger finanziellen Mitteln lassen sich Verbesserungen erreichen: Halten wir unsere Fuß- und Radwege konsequent frei von parkenden Autos! Weisen wir Straßen als Fahrradstraßen aus, und richten wir Schutzstreifen ein, wo es die Breite der Straße zulässt! Entschärfen wir Gefahrenstellen, um brenzlige Situationen zu vermeiden! Sie haben weitere Ideen? Nur zu!

Dort, wo wir als Stadt Änderungen herbeiführen können, müssen wir es auch tun. Und dort, wo Kreis und Land uneinsichtig sind, dürfen wir nicht locker lassen und müssen den öffentlichen Druck erhöhen, indem wir möglichst viele Menschen für eine echte Verkehrswende begeistern.

Vor dem Hintergrund des rasanten Klimawandels und der hohen Luftbelastung durch Emissionen, ist es unsere Pflicht gegenüber den Menschen in Tornesch und nachfolgenden Generationen, umweltfreundliche Mobilitätsformen zu fördern und umweltschädliche möglichst überflüssig zu machen. Übrigens: Auch in Kopenhagen, der fahrradfreundlichsten Stadt der Welt, gaben nur sieben Prozent bei einer Umfrage an, das Fahrrad aus ökologischen Gründen vorzuziehen. Für die meisten ist es einfach die beste Option, um möglichst schnell von A nach B zu kommen.

Wir müssen einfach machen!

Aus Unser Tornesch, I / 2019